Konstanzer Kunstpreis 2022
Handarbeit
Andrea Vogel, Konstanzer Kunstpreis 2022
Preisverleihung 9. Oktober 2022
um 11 Uhr im Wolkenstein-Saal
Die St. Galler Künstlerin Andrea Vogel erhält den diesjährigen Konstanzer Kunstpreis.
Festakt zur Preisverleihung: So 09.10.2022, 11 Uhr im Wolkensteinsaal Kulturzentrum am Münster
Begrüßung und Preisverleihung:
Dr. Andreas Osner, Kulturbürgermeister
Michael Günther, 1. Vorsitzender Kunstverein Konstanz
Laudatio: Corinne Schatz, Kunsthistorikerin MA UZH, St. Gallen
anschließende Eröffnung der Ausstellung im Kunstverein Konstanz
[Einstieg: Video «Laufsteg», 2008, Performance im Rahmen der Ausstellung UND-ART 08, Alte Färberei Oberuzwil SG]
Wer da in stoischer Ruhe und ohne die Contenance zu verlieren in Highheels und Abendrobe durch einen halsbrecherischen Parcours klettert, resp. in Styropor steckenbleibt, über Leitern, davonrollende Kartonröhren und schwankende Platten balanciert, ist natürlich niemand anderes als unsere heutige Preisträgerin, Andrea Vogel.
Andrea Vogel bewegt sich zu dieser Zeit beruflich in der Welt der Mode. Ihre künstlerische Entwicklung beginnt im Textildesign. 1974 geboren und aufgewachsen in Oberdiessbach bei Bern, absolviert sie eine Berufslehre als Textilentwerferin mit Schwerpunkt Weberei und anschliessend ein Studium in Textildesign an der Schule für Gestaltung und Kunst in Luzern, das sie 1999 abschliesst. In der Ausstellung der Diplomarbeiten wird sie von Martin Leuthold entdeckt, 1989 bis 2018 Kreativdirektor bei der renommierten Textilfirma Jakob Schläpfer in St. Gallen, deren innovative und exquisite Stoffe regelmässig auf den Laufstegen der berühmtesten Modehäuser in Paris zu sehen sind. Leuthold beruft sie in sein Team, wo sie bis 2012 mitwirkt. Andrea Vogel lässt sich in St. Gallen nieder, wird 2002 Mutter einer Tochter und entwickelt neben ihrer Arbeit als Designerin erste künstlerische Arbeiten. Ihre Experimentierfreude und Kreativität erregt bald Aufmerksamkeit und bringt ihr erste Auszeichnungen wie 2005 den Schweizer Designpreis für Modedesign. Ihr Beitrag weist bereits voraus auf ihre der freien Kunst zugewandte Auffassung textilen Gestaltens. Die prämierte Arbeit «Anschnallen» hat mehr mit Skulptur als mit Mode zu tun und erinnert an die Kostüme einer experimentellen Oper oder Oskar Schlemmers Triadisches Ballett.
2008 geht Andrea Vogel also auf einen selbst gebauten «Laufsteg» und schafft diese von Ironie und Ernst geprägte Performance, die hinter dem ganzen Glamour das Prekäre, die Gefahren, die Herausforderungen der Welt der Schönen und Eleganten offenlegt. Die versteinerten Mienen der Models, die teils auf halsbrecherisch hohen Schuhen Haltung bewahren müssen, aber auch Buster Keaton, der angesichts unsäglicher Situationen nicht einmal blinzelt, rufen sich in Erinnerung. Die Performance ist jedoch nicht nur eine Persiflage auf Modeschauen, sondern spielt ganz allgemein auf die Unvereinbarkeit eigener und gesellschaftlicher Erwartungen an die Frau an, die selbständig ihren Weg gehen möchte, jedoch zahlreiche Hindernisse überwinden muss und zugleich eine elegante Figur abgeben und dem tradierten Bild der hübschen Frau gerecht werden soll. Ihre Ausrüstung, z.B. die Kleidung, eignet sich allerdings nicht für die zu bewältigenden Aufgaben.
Performance, ob live oder im Video, ist von Anfang an eine der zentralen Ausdrucksformen der Künstlerin. Häufig spielt Wasser eine tragende Rolle, wie in der Aktion «Spülung», wo die Künstlerin durch eine Strasse schreitet und eine mit Wasser gefüllte Plastiktasche auf ihrem Kopf balanciert. Vor dem Eingang zum Ausstellungsraum bleibt sie stehen. Nach und nach lässt die Kraft in ihren Armen nach, die Tasche sinkt langsam über ihr Gesicht bis die Künstlerin erschöpft loslassen muss und sich ein Wasserschwall über sie ergiesst. Diese Performance entwickelte sie 2019 für die «Grosse Regionale» in der Alten Fabrik in Rapperswil, früherer Firmensitz der Geberit, deren Stiftung den Kunstraum finanziert. Die Anspielung auf die Toilettenproduktion der Firma zeigt, wie humorvoll die Künstlerin gelegentlich auf ortsspezifische Umstände reagiert.
In manchen Performances erleben wir Andrea Vogel als fast reglose, lebende Skulptur, die ein – selbst ausgelöstes – Ereignis über sich ergehen lässt. So erweckt sie während ihres Atelierstipendiums in Rom [2012 verliehen vom Kanton St. Gallen] einen stillgelegten Brunnen im Parco del Collo Oppio wieder zu Leben. In der Videoarbeit stellt sie sich als Brunnenfigur in die manieristisch gestalteten Kunstfelsen. Vor ihrem Körper hängt wie ein Négligé eine rosarote, mit Wasser gefüllte Plastiktasche. Mit zwei Scheren schneidet sie gleichzeitig die unteren Ecken weg, und in eleganten, feinen Bogen ergiesst sich das Wasser in das ausgetrocknete Becken, während sie regungslos dasteht.
Diesen Tableaux vivants ähnlichen Performances diametral entgegengesetzt ist ihr «Kampf» mit einem mehrere Meter langen Tüll, den sie im Shed im Eisenwerk Frauenfeld unter Einsatz all ihrer Kraft um vier Säulen zu spannen versucht – am Schluss mit Erfolg. Das Video entstand 2020, während sie dort ihre Ausstellung «Es brennt mir unter den Nägeln» einrichtete und mit Wirktüll und anderen Stoffen sowie vorgefundenem Material eine buchstäblich höchst spannungsreiche Installation entwickelte. «Form folgt Material» könnte man in Bezug auf ihren Schaffensansatz sagen, das Material –häufig textiles – gibt den Weg vor und seine Formbarkeit wird in alle Richtungen ausgelotet, sodass überraschende Eigenschaften zutage treten können, wie eben die Reissfestigkeit zarten Tülls. Grossräumige Interventionen hat Andrea Vogel mit Absperrbändern [Oben durch – unten durch, Architekturforum St. Gallen, 2013] ebenso erarbeitet wie mit diesem von ihr besonders geschätzten Stoff. So 2015 für die Ausstellung «Behind that Curtain» im Kulturraum am Klosterplatz in St.Gallen, wo sie aus semitransparentem Tüll und Baugerüsten die Ausstellungsarchitektur baute und eine äusserst vielschichtige Auseinandersetzung mit dem Buch «Sticken und Beten» von Jolanda Spirig über die Stickereidynastie Jacob Rohner schuf. Ebenso einfach wie differenziert ist ihr Teppich aus am Bodenseeufer gesammelten asiatischen Körbchenmuscheln in Arbon vor zwei Jahren, wo die ästhetisch bezaubernde Wirkung im Widerspruch zu den Problemen steht, die diese vor vierzig Jahren eingeschleppten Tiere mittlerweile verursachen.
Andrea Vogels bisher einzige Arbeit im öffentlichen Raum ist ein Brunnen – allerdings der besonderen Art. In der Nähe der Universität St. Gallen steht seit 2013 ein bronzenes Konterfei der Künstlerin vornübergebeugt auf dem Gehsteig. Tritt man in ihre Nähe spritzt plötzlich ein kräftiger Wasserstrahl aus ihrem wie zum Kuss zugespitzten Mund. Wer Pech hat, wird nass– eine humorvolle Umdeutung jener zahlreichen wasserspeienden Figuren, die historische Brunnen schmücken. Der Titel «Kiss for Bruce» ist eine Hommage an Bruce Nauman und dessen Werke «Self-Portrait as a Fountain» (1966-67, eine Fotografie, in der der Künstler aus seinem Mund Wasser speit) sowie die Textarbeit «The True Artist Is an Amazing Luminous Fountain» (1966, Der wahre Künstler ist ein erstaunlicher leuchtender Quell). Die Ironie in Naumans Arbeit, die auf den Geniekult und die Vorstellung des Künstlers als stete Quelle grossartiger Meisterwerke anspielt, steht Andrea Vogels eigenem Humor sehr nahe. «Nicht Berühren» steht – zumindest in Museen – vor den meisten Kunstwerken. Im öffentlichen Raum gilt das meist nicht, doch hier wird angespuckt, wer der bronzenen Dame zu nahetritt. Andererseits kann man mit einigem Geschick mit ihr in eine besonders enge körperliche Begegnung treten, wenn man sich den Wasserstrahl – und somit sozusagen die Kunst «einverleibt». Es ist ein Spiel zwischen Verlockung und Abwehr, Nähe und Distanz.
Ebenso körperlich, wenn auch zwischen der Künstlerin und den Skulpturen von anderen Künstlern geht es in den «Sculpture Massages» zu. In lockerer Folge wählt Andrea Vogel Skulpturen im öffentlichen Raum und gewährt ihnen eine Massage. Als erste Figur massierte sie die «Die Schwebende» von Hermann Haller aus dem Jahr 1956 in Locarno, danach Henry Moores «Large Spindle Piece» von 1974 in London. Nicht nur geografisch und historisch ist diese Werkfolge ausgreifend, sondern auch bezüglich der künstlerischen Richtungen, Sprachen und Materialien. So werden abstrakte wie die «Pavillon-Skulptur» von Max Bill an der Zürcher Bahnhofstrasse ebenso massiert wie die temporäre, einen ganzen Stadtplatz umfassende Installation «Robert Walser Skulptur» von Thomas Hirschhorn in Biel – inklusive dem auf einem Sofa sitzenden Künstler selbst.
Andrea Vogel spricht mit dieser Werkserie verschiedene Aspekte an: da ist die physische Präsenz der Skulpturen im öffentlichen Raum, die – um mit Robert Musil zu sprechen – allzu oft mit der Zeit «unsichtbar» werden oder schlimmstenfalls als Hindernis im Wege stehen. In gewissem Sinn kann man die Massagen auch als Nachschöpfung begreifen. Diese Serie führte Vogel unter Anderem zu Werken des internationalen Skulpturprojekts «Strasse des Friedens», die auf eine Idee von Otto Freundlich (1887-1943) in den zwanziger Jahren zurückgeht und ab den siebziger Jahren von Leo Kornbrust wieder aufgegriffen wurde[1]. Die zentrale Rolle, die das Körperliche und Taktile in Vogels Arbeit spielen, wird in diesen Massagen in intensivster Form erlebbar. Seit September 2014 sind 33 Skulpturen in den Genuss ihrer einfühlsamen Behandlung gekommen. Die letzten beiden im Hinblick auf diese Ausstellung: die Skulptur «El Niño» von Ubbo Enninga in Radolfzell und die «Schwurhand» von Franz Gutmann hier gleich um die Ecke in der Torgasse.
Handarbeit – nennt Andrea Vogel ihre Ausstellung im Kunstverein
Im Hauptraum entdecken Sie eine zauberhafte Installation. Auf dem Boden stehen Arrangements von ornamental durchbrochenen, schwarzen Scheiben. Es handelt sich um handgefertigte Zierdecken, die die Künstlerin mit Epoxidharz gehärtet und schwarz gefärbt hat. Über Jahre hat sie solche Decken in Brockenhäusern und im Internet gesammelt, fasziniert von der Hingabe, Sorgfalt und Lebenszeit, die in diesen Handarbeiten stecken und die doch eines Tages entsorgt werden. Sie sind ein Beispiel für ein nicht sinnloses, aber zweckfreies Tun, erfüllen doch die Zierdecken kaum einen praktischen Nutzen, sondern werden allenfalls zur Verschönerung des Heims oder «nur» zum Vergnügen und Zeitvertreib geschaffen. Sie sind jedoch auch Inbegriff bürgerlicher, ja biederer Gemütlichkeit.
Die gesellschaftliche Beurteilung weiblicher Handarbeit erlebt seit etwa zweihundert Jahren ein stetiges Wechselbad zwischen Wertschätzung und Verachtung – und ab und an erlangt sie sogar revolutionäre Kraft. In Zusammenhang mit der textilen Handarbeit, die erst im 19. Jahrhundert mit weiblichem Handwerk gleichgesetzt wird, kann man nicht nur die Entwicklung der gesellschaftlichen Rolle der Frau, sondern auch eine Mediengeschichte – von den Anleitungen in Zeitschriften bis zu den Social Media von heute – erzählen. Wie Christiane Holm und andere Autorinnen beschreiben, fand um ca. 1800 ein Wandel statt. Textile Handarbeit wurde nicht mehr nur für den hauswirtschaftlichen Nutzen geschätzt, also die Herstellung von Dingen des täglichen Gebrauchs, sondern als «Erziehungsinstrument und Therapeutikum zur Bindung der ungerichteten Gedanken und Begierden von Mädchen und Frauen».[2] 120 Jahre später sind es die Weberinnen am Bauhaus, die nicht nur am innovativsten, sondern auch wirtschaftlich am erfolgreichsten die Ideale des Bauhauses verwirklichen. Diese Frauen, in den dreissiger Jahren in die Emigration gezwungen, lösen in den USA und in Europa nach dem 2. Weltkrieg eine erste Welle moderner Textilkunst aus. In der Hippiezeit und in der grünen Welle der 1980er Jahre widersetzt man sich mit selbstgestrickten Pullis dem Konsumzwang und Modediktat. Wenig später führt Rosmarie Trockel subversiv das Stricken in die höheren Sphären der Kunst ein. Und vor ca. zehn Jahren erobert das Urban Knitting und Yarnbombing den öffentlichen Raum mit allerlei Gestricktem, Gehäkeltem und mit kollektiven, teils feministisch geprägten Happenings. Das Internet und Social Media sind zu Multiplikatoren für die in regelmässigen Zeiträumen aufflammende Do it yourself-Euphorie geworden.
Den Produkten solcher Tätigkeiten verschafft nun unsere Preisträgerin völlig neue Dimensionen. Die Zierdecken sind je nach Geschick ihrer Schöpferin äusserst zart, in feinsten Maschen von Hand gefertigt und sie sind zugleich äusserst reissfest. Durch die Härtung mit Epoxidharz werden sie nun zu filigranen ornamentalen Gittern, die zerbrechlich geworden sind und in «Fragiler Stabilität» aneinandergelehnt stehen. Die Bearbeitung bewirkt eine Umkehrung der Eigenschaften: Weichheit bedeutet Stärke und Härte wird zur Schwäche – eine Transformation, die Andrea Vogel besonders interessiert. Beim Betrachten und Umkreisen der Installation entspinnt sich ein Spiel mit Transparenz und Verdichtung.
In der Seitengalerie zeigt Andrea Vogel die Werkgruppe «Handarbeit», die von einem weiteren verbreiteten Hobby ausgeht, der Gobelinstickerei nach Vorlage. Besonders geschätzt scheinen, zumindest in der Schweiz, Gemälde des Schweizer Malers Albert Anker zu sein, der sich im 19. Jahrhundert auf Porträts der Landbevölkerung, insbesondere von Kindern, spezialisierte. Häufig zeigt er sie beim Lesen oder Musizieren oder bei einer handwerklichen Tätigkeit. Andrea Vogel übermalt die Gobelins bis auf die Hände mit schwarzer Ölfarbe. Isoliert von den Utensilien, mit denen sich die Hände beschäftigen, scheinen sie nun eine geheime Zeichensprache zu sprechen. In der Hängung entsteht eine tänzerische Choreographie, die von Bild zu Bild weitergeht, bis sie in Leonardos Abendmahl einen Höhepunkt erreicht und einen völlig neuen Blick auf dieses berühmte Gemälde eröffnet. Etwas abseits hängt ein Bild eindeutig strickender Hände und darunter ein Paar Socken. Während die meisten Handarbeiten Früchte einer anonymen Leidenschaft bleiben, ist das Sockenpaar eine Hommage an eine bekannte Persönlichkeit dieser Stadt: an eine Frau, die täglich bei jedem Wetter draussen in den Gassen sitzt und Socken strickt; und dies nach eigenen Angaben nicht für Geld; die Socken schenkt sie einem Heim.
So verschafft Andrea Vogel den einst liebevoll hergestellten, aber oft als biederer Kitsch verrufenen Handarbeiten eine neue Existenz. Die materielle Transformation enthebt die Zierdecken und Gobelins der Sphäre bürgerlicher Gemütlichkeit und verwandelt sie in eigenständige Kunstwerke, die eine überraschende ästhetische und poetische Wirkung entwickeln. Dieses Vorgehen ist exemplarisch für ihre künstlerische Arbeit. Zudem liegt ihrem Schaffen, ob Performance, Installation oder Objekt, ein Drang nach Verdichtung, Vereinfachung und Reduktion auf das Notwendigste zugrunde. Eine Idee auf den Punkt zu bringen, alles Überflüssige wegzulassen, hält sich die Waage mit dem Wunsch, Material, Raum und Situation in überraschender Weise neu zu denken und zu verwandeln. Dabei erforscht sie die spezifischen physischen und optischen Eigenschaften der verwendeten Materialien. Zugleich sucht sie, deren Grenzen zu überschreiten und in inhaltliche Ebenen vorzudringen, wo ihre Werke existentielle, gesellschaftliche, kulturhistorische und ortsspezifische Bedeutung erlangen.
Ich möchte meine Laudatio mit einem Zitat der Künstlerin schliessen:
«Das Textile ist einfach die Quelle. Ästhetisch wie inhaltlich. Ich denke, man kann die ganze Welt auf das Textile zurückführen. Am Anfang war die Spinne! Das erste Gewand. Das letzte Gewand und dazwischen viel an aus an aus an aus – ziehen.»
[1] https://strasse-des-friedens.com und https://sculpture-massage.com
[2] Christiane Holm, Hrsg., Handarbeit, Handliche Bibliothek der Romantik, Band 5, Berlin: Secession Verlag, 2020, S. 10
BEGLEITPROGRAMM
Do 03.11.2022, 19 Uhr
Der Pfahlbau-Archäologe Urs Leuzinger (Frauenfeld) und Andrea Vogel zetteln ein Gespräch an und spannen die Fäden zum Anfang aller Textilindustrie.
Do 10.11.2022, 19 Uhr
Kammerkonzert im Kunstverein: Circolo-Quartett "Intime Briefe"
In Kooperation mit der Südwestdeutschen Philharmonie
So 20.11.2022, 11.30 Uhr
Rundgang durch die Ausstellung mit Corinne Schatz und Andrea Vogel
So, 04.12.2022, 17 Uhr
Finissage „Vierhänder“ mit Andrea Vogel & Simon Ho (www.simonho.ch) am E-Piano
Wie kann es sein, dass eine zeitgenössische Künstlerin, die demnächst den von einer internationalen Jury an sie vergebenen Konstanzer Kunstpreis 2022 erhalten wird, ihrer zugehörigen Ausstellung im Herbst 2022 den Titel „Handarbeit“ gibt? Kein so häufig verwendeter Anglizismus, keine Formulierung aus dem aktuellen künstlerischen Diskurs, schlicht „Handarbeit“. Ja, es kann sein, und es ist eine ganz bewusste Setzung Andrea Vogels. Handarbeit steht bei ihr einerseits für das Herstellen von Arbeiten mit den eigenen Händen, zum anderen für das Transformieren von gehandarbeiteten Materialien sowie für das tatsächliche „Hand anlegen“, z.B. in ihrem Projekt „Sculpture Massage“, in dem sie mit bestehenden Skulpturen performt. Ihr bildhauerischer Umgang mit Textilien und das Performative sind zwei entscheidende Grundlagen in Andrea Vogels Schaffen. Absurdität und Humor, aber auch Poesie finden sich in ihren Arbeiten. Textilien, insbesondere auch tatsächlich in Handarbeit entstandene textile Erzeugnisse, faszinieren die Künstlerin seit langem und inspirieren sie dazu, ihre besonderen physischen und optischen Eigenschaften zu erforschen und deren Grenzen zu überschreiten, indem sie mit unterschiedlichen Techniken darauf einwirkt. So zeigt ihre raumgreifende Installation im großen Saal des Kunstvereins Konstanz ursprünglich zarte, kleinteilige, mit Liebe – dies spüren zu lassen ist Andrea Vogel wichtig - gehäkelte, gestrickte, geklöppelte Handarbeiten anonymer Personen, welche unter ihrer Einwirkung zu einem skulpturalen Werk werden, dunkel, energiegeladen und voller Spannung. Dabei transformiert sie Materialität, erzeugt fragile Stabilität, Reißfestes wird zerbrechlich, Romantik wird streng.
„Handarbeit“ ist auch der Titel einer Serie von Übermalungen in der Ausstellung des Kunstvereins. Vogel bearbeitet Gobelinstickereien, deren Vorlagen häufig bekannte Werke der Kunstgeschichte sind. Ihre Übermalungen nimmt sie in der klassischen Technik der Ölmalerei vor, es entstehen - hier in einer doppelten Transformation - eigenständige malerische Arbeiten. In den häufig dunklen, oft großformatigen Werken bleiben ausschließlich die Hände, die Arme in hellem Inkarnat sichtbar. Entstanden sind die ersten dieser Arbeiten während des Lockdowns, zu einer Zeit, als ein Rückzug auf die eigenen vier Wände unvermeidlich war und sogar wieder gehandarbeitet wurde. Auch die allgegenwärtige Notwendigkeit, Hände zu waschen und zu desinfizieren fließt in die Malereien mit ein.
In einer Videoarbeit, ebenfalls mit dem Titel „Handarbeit“, entfernen Andrea Vogels Hände aus einem Turm von Handarbeiten ein Stück nach dem anderen. Hier spielt die Künstlerin mit Gegensätzen, tauscht Fülle gegen Leere. In der Video-Performance „Eingespannt“ schreitet die Künstlerin, untermalt von eindrücklicher Toncollage, als Model in einem eleganten blauen Kleid mit roten Stilettos durch einen schmalen Gang auf uns zu, sie wendet sich und erst beim Zurückschreiten nehmen wir wahr, dass ihre Bewegung durch einen Stickrahmen, den sie sich um den Körper gegürtet hat, behindert wird. Ein Bild für die Spannung zwischen Stolz, Unfreiheit und Schmerz.
Andrea Vogel, geboren in Oberdiessbach im Kanton Bern, besuchte nach einer Ausbildung zur Textildesignerin die Textilklasse der Schule für Gestaltung und Kunst in Luzern, die sie 1999 abschloss. 2015 wurde sie durch den Förderpreis der Stadt St. Gallen ausgezeichnet, 2005 gewann sie den eidgenössischen Förderpreis für Design. Ihre Werke sind seit 2005 regelmäßig in diversen Einzel- und Gruppenausstellungen zu sehen und u.a. in den Kunstsammlungen der Stadt Baden, des Kantonsspitals Aarau und des Kantons St. Gallen vertreten. Andrea Vogel lebt und arbeitet in St. Gallen und Oberdiessbach.
Der alle zwei Jahre vom Kunstverein Konstanz e.V. und der Stadt Konstanz vergebene Kunstpreis ist mit 8.000 Euro dotiert und geht mit einer Ausstellung im Kunstverein Konstanz einher. Seit 1979 wird er an Künstlerinnen und Künstler verliehen, die im deutschsprachigen Bodenseeraum geboren oder beheimatet sind, hier längere Zeit künstlerisch tätig waren oder der Bodenseelandschaft in ihrem Werk eine bevorzugte Stellung einräumen. Die Jury setzt sich zusammen aus Vertreterinnen und Vertretern diverser Kulturinstitutionen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz.
Öffentliche Führungen
So 16.10. 11.30 Uhr, Do 27.10. 16.30 Uhr, So 13.11. 11.30 Uhr, Do 24.11. 16.30 Uhr
weitere auf Anfrage
SWR-Reporterin Barbara Paul über die Preisträgerin des Konstanzer Kunstpreises 2022
Zeitungsbericht vom St. Galler Tagblatt am 8. November 2022 von Martin Preisser,
Foto: Donato Caspari, © Tagblatt AG - Alle Rechte vorbehalten
Fotos: Andrea Vogel