Luo Mingjun

Border

Dr. Dolores Claros-Salinas - Einführung in die Ausstellung

Border - Grenze hat Luo Mingjun ihre Ausstellung benannt – für eine Grenzregion wie den Bodenseeraum kein unbekanntes Thema, im Positiven oft in den Zusammenhang gestellt mit Grenzüberschreitung, der Beschwörung des Gemeinsamen, der Vision eines möglichst grenzenlosen Europas. Aus der Perspektive eines Kunstvereins lässt der Begriff Grenze gern Idee und Umsetzung einer weltweit einzigen Kunst-Grenze assoziieren, Johannes Dörflingers Tarot-Skulpturen, die zwischen Deutschland und der Schweiz einen ebenso offenen wie verbindenden Raum schaffen. Wie rasch selbst diese Grenze wieder ihre abweisend-trennenden Funktionen ausübt, haben wir alle noch in unserem Corona-Gedächtnis.

Aber welchen Begriff von Grenze hat eine Künstlerin, die in China geboren und künstlerisch ausgebildet wurde, um dann vor mehr als drei Jahrzehnten in der Westschweiz heimisch zu werden?

Mit Border rückt für sie zunächst das Thema ihrer künstlerischen wie persönlichen Grenzerfahrungen zwischen einer fernöstlichen Herkunftswelt und einem gegenwärtigen Leben im westlichen Europa in den Blick. Wie, so fragt Luo Mingjun, bildet sich im Leben zwischen diesen Welten, unter dem Einfluss so unterschiedlicher Denkweisen, geschichtlicher Erfahrung und sozialer Prägung, kulturelle Identität?

Ihre künstlerische Arbeit zeigt sie als Grenzgängerin von Beginn an: in ihrem Studium an der Kunstakademie der Universität von Hunan wendet sie sich dem für Chinas reiche Malerei- und Kalligraphie-Tradition ungewöhnlichen, fremden Medium zu: der Ölmalerei. Erst durch europäische Einflüsse, vor kaum mehr als 100 Jahren, wurde das Malen mit Ölfarben in China bekannt und v.a. durch ausländische Lehrpersonen vermittelt - Luo Mingjun als herausragend begabte Studentin erhielt, kaum 20-jährig, eine Assistenzprofessur. Die Aufbruchszeit im China der achtziger Jahre, gekennzeichnet durch wirtschaftliche Reformen und eine Öffnung nach Westen ist für Luo Mingjun persönlich markiert durch die erste Robert Rauschenberg-Ausstellung in Peking – die sie gar nicht besuchen konnte, die aber in der Diskussion der jungen Künstlerkolleg*innen gegenwärtig ist und die Neugierde nährt auf die bis dahin kaum zugängliche westliche Gegenwartskunst, in der nicht nur gemalt wird, in der es um Objekte und Installationen geht. Inwieweit es tatsächlich politisch opportun ist, sich mit internationaler Gegenwartskunst zu beschäftigen, ist eher unsicher. Mit einem Kunstgriff lösen Luo und andere Kunsthochschullehrer*innen, die sich inzwischen zur Gruppe 0-Art, in Anlehnung an die Künstlergruppe Zero der fünfziger und sechziger Jahre, zusammengeschlossen haben, dieses Problem: im Andenken an den Heldenmythos der roten Armee unter Mao in den dreißiger Jahren treten sie einen langen Marsch durch das riesige China an und erreichen mit dieser Form ehrender Erinnerung die Zustimmung der offiziellen Stellen. Nach mehrmonatigem Marsch trifft Luo Mingjun in Tibet einen jungen Schweizer und bringt den Mut auf, ihm zu folgen, nach Biel, wo sie bis heute mit ihm und zwei Söhnen lebt.

Nach ihrem Wechsel in die westliche Welt, im Zwiespalt zwischen Neugier auf das europäische Leben und Assimilationsstreben einerseits und dem schmerzvollen Empfinden des Entwurzeltseins andererseits, bezieht sich die Künstlerin auf chinesische Maltraditionen: sie lässt die Ölmalerei bald beiseite und widmet sich, Tusche auf Papier, der Kalligraphie.

Erst 12 Jahre später wendet sie sich wieder der Ölmalerei zu: ihre Arbeiten erinnern nun in ihrer zarten Grautönigkeit, den fein komponierten Leerstellen der Leinwand, der Licht- und Schattenwirkung an fernöstliche Tuschebilder. Auch ihre hellen Bleistiftzeichnungen mit unscharfen, wie in Wasser gelösten Konturen wirken wie feingetuschte Landschaftsmalerei. Wie sehr die artistische Grenzgängerin aber dennoch nicht einfach der chinesischen Tradition verhaftet arbeitet, sondern höchst eigenständig ihre künstlerische Position formuliert, davon können Sie sich überzeugen: alle hier, in unserem großen Oberlichtsaal, gezeigten Werke sind in diesem Jahr entstanden und wir freuen uns sehr, sie erstmals präsentieren zu dürfen.

Die Thematik der Grenze erschließt Luo Mingjun in ihrer Konstanzer Ausstellung durch ein großformatiges Triptychon, eine Meeresansicht, die horizontlose Nahsicht auf bedrohlich hohe, gischtschlagende Wellen. Diese frontal angeordnete, beherrschende Ansicht eines düster beklemmenden Wassers wirkt als Fluchtpunkt für die Darstellung einzelner, menschlicher Figuren, die das Seestück rechts und links flankieren. In einer neblig verschleierten Landschaft, einem bewegt-fließenden Raum halten sich eine Frau und, an der Wand gegenüber, ein Mann in einer abschüssigen Hanglage und richten den Blick in eine ungewisse Ferne. Eine Ferne, die helles, geheimnisvolles Licht in die Stille und Verhaltenheit der Szene bringt und die Einzigartigkeit dieses Lebensmoments (A Moment of life ist der Bildtitel) hervorhebt – ein Leuchten vom Meer her?  

Land und Meer, sei es die stürmische See oder eine windstille Wasserfläche wie auf den 3 kleinen Bleistiftzeichnungen (The sea has smoothed down 1.2.3), bilden einen Gegensatz, in der Grenzlinie zwischen ihnen mischen sich erwartungsvolle Sehnsucht und bange Hoffnungslosigkeit. 

Nicht nur in ihren malerischen und zeichnerischen Arbeiten lässt Luo Mingjun eine vielschichtige Bildwelt entstehen, die ostwestliche Grenzlinien auslotet. Diese Perspektive wird auch deutlich in einer installativen Arbeit, die sie im ersten Teil für eine Ausstellung in Peking aus der Corona-Ferne in diesem Frühjahr konzipierte und nun für die Präsentation im Kunstverein Konstanz fortentwickelte: wie für eine Flaschenpost ließ die Künstlerin Ausstellungsbesucher*innen in China persönliche Wünsche auf Zettel schreiben und in Flaschen verkorken. Die im Nachhinein wieder entnommenen Wunschzettel wurden Luo Mingjun nachgesandt, in einem gut verschnürten Paket, das als Ausgangspunkt der Konstanzer Rauminstallation noch ungeöffnet die Vielzahl und Intensität der chinesischen Wünsche nur ahnen lässt – immerhin haben sie all die Grenzen passiert, die zwischen Meer und Land, zwischen Kontinenten und Nationen, nicht zuletzt durch eine weltweite Pandemie, auch gegenwärtig nicht einfach zu überwinden sind.

Luo Mingjun selbst empfindet Scheu, diese chinesischen Wünsche jetzt auszubreiten und offenzulegen. Während der installativen Arbeit mit den gelben Post-it-Zetteln, die als Empfangsrahmen, ein dichter Teppich für das chinesische Päckchen angelegt sind,  zu sehen im kleinen Oberlichtsaal, entwickelt Luo Mingjun die Idee, dass deutsche Wünsche dazu kommen sollten – frei auf den bereitgelegten Zetteln niederzuschreiben und überall im Raum, an der Wand, auf dem Boden, anzubringen.

Zettelfrei soll einzig die Wand mit der Arbeit „Rivers“ bleiben. Luo Mingjun sieht diese Zeichnung in enger inhaltlicher Nähe zur Meeresansicht im großen Oberlichtsaal: wie die Wasserwogen unaufhaltsam strömen, so verläuft auch das Leben der dargestellten mehr als 300 Absolvent*innen und Lehrer*innen von Luo Mingjuns Kunsthochschule in unwägbaren Wellen, einem wilden Flusslauf ähnlich. Gezeichnet hat sie diese Ansicht nach einem Foto, das sie erst Jahre nach dessen Entstehen erhielt, eine mehrmonatige Arbeit, die für sie eine stete Auseinandersetzung mit all den Erinnerungen an ihr chinesisches Leben bedeutete.

Grenzen zu leugnen, helfe nicht, so meint Luo Mingjun, sie seien da, nicht zuletzt auch die selbstgesetzten, es komme darauf an, sie zu kennen, um mit ihnen, diesen Konturen von Identität, zu spielen, sie zu überschreiten, in diese und in jene Richtung, nach Osten wie nach Westen.

Eröffnung            01.10.2021, 17 - 20 Uhr

Begrüßung           Michael Günther, 1. Vorsitzender Kunstverein Konstanz

Einführung           Dr. Dolores Claros-Salinas, Kunstverein Konstanz

 

Luo Mingjun ist in China geboren und künstlerisch ausgebildet. Seit Ende der achtziger Jahre lebt und arbeitet sie in der Westschweiz. Ihre Ausstellung im Kunstverein Konstanz hat sie Border genannt und damit das Thema ihrer künstlerischen wie persönlichen Grenzerfahrungen zwischen einer fernöstlichen Herkunftswelt und einem gegenwärtigen Leben im westlichen Europa in den Blick gerückt. Wie, so fragt Luo Mingjun, bildet sich im Leben zwischen diesen Welten, unter dem Einfluss so unterschiedlicher Denkweisen, geschichtlicher Erfahrung und sozialer Prägung, kulturelle Identität?

Ihre künstlerische Arbeit zeigt sie als Grenzgängerin von Beginn an: in ihrem Studium an der Kunstakademie der Universität von Hunan wendet sie sich einem für Chinas reiche Malerei- und Kalligraphie-Tradition fremden Medium zu: der Ölmalerei. Erst durch europäische Einflüsse, vor kaum mehr als 100 Jahren, wurde das Malen mit Ölfarben in China bekannt und v.a. durch ausländische Lehrpersonen vermittelt - Luo Mingjun als herausragend begabte Studentin erhielt eine Assistenzprofessur.

Nach ihrem Wechsel in die westliche Welt bezieht sich die Künstlerin zunehmend auf chinesische Maltraditionen: ihre Ölgemälde erinnern in ihrer zarten Grautönigkeit, den fein komponierten Leerstellen der Leinwand, der Licht- und Schattenwirkung an fernöstliche Tuschebilder. Auch ihre hellen Bleistiftzeichnungen mit unscharfen, wie in Wasser gelösten Konturen wirken wie feingetuschte Landschaftsmalerei.

Die Thematik der Grenze erschließt Luo Mingjun in ihrer Konstanzer Ausstellung durch ein großformatiges Triptychon, eine Meeresansicht, die horizontlose Nahsicht auf bedrohlich hohe, gischtschlagende Wellen. Diese beherrschende Ansicht wirkt als Fluchtpunkt für die Darstellung einzelner, menschlicher Figuren, die aus einer neblig verschleierten Landschaft heraus den Blick in eine ungewisse Ferne richten. Der Gegensatz zwischen Meer und Land zieht eine Grenzlinie, in der sich Sehnsucht und Hoffnungslosigkeit mischen. 

Nicht nur in ihren malerischen und zeichnerischen Arbeiten lässt Luo Mingjun eine vielschichtige Bildwelt entstehen, die ostwestliche Grenzlinien auslotet. Auch in einer installativen Arbeit, die sie im ersten Teil für eine Ausstellung in Peking konzipierte und für die Präsentation im Kunstverein Konstanz fortentwickelte, wird diese Perspektive deutlich: wie für eine Flaschenpost ließ die Künstlerin Ausstellungsbesucher*innen in China persönliche Wünsche auf Zettel schreiben und in Flaschen verkorken. Die im Nachhinein wieder entnommenen Wunschzettel wurden Luo Mingjun nachgesandt, in einem gut verschnürten Paket, das als Ausgangspunkt der Konstanzer Rauminstallation noch ungeöffnet die Vielzahl und Intensität der chinesischen Wünsche nur ahnen lässt – immerhin haben sie all die Grenzen, die zwischen Meer und Land, zwischen Kontinenten und Nationen, nicht zuletzt durch eine weltweite Pandemie, kaum überwindbar erscheinen, passiert.

 

Begleitprogramm zur Ausstellung

Konzert im Kunstverein
Kammerkonzert / Südwestdeutsche Philharmonie
Strukturen II / Circolo Quartett
Do 04.11.2021, 19 Uhr

                                              

Öffentliche Führungen           
So, 17.10.2021, 11.30 Uhr / Do, 28.10.2021, 16.30 Uhr / So, 14.11.2021, 11.30 Uhr / Do, 25.11.2021, 16.30 Uhr
Weitere auf Anfrage  

Öffnungszeiten                      
Di - Fr, 10.00 – 18.00 Uhr
Sa / So / Feiertage, 10.00 – 17.00 Uhr

Bitte informieren Sie sich vor dem Ausstellungsbesuch per Telefon oder Website über Terminänderungen und Einlassbestimmungen aufgrund von Corona-Maßnahmen.

Fotos: Luo Mingjun

Fotos: Franz Reichrath

Fotos: Christa Schweizer

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