Loredana Nemes

Passion Portrait
Fotografien von Loredana Nemes

Foto: Loredana Nemes, Rasim Neukölln, Serie beyond: 2008-2010

Eröffnung           
Freitag, 18.2.2022 17.30 – 20 Uhr
Einführung Dorothea Cremer-Schacht, Kunstverein Konstanz

Einführungsrede zur Ausstellung „Loredana Nemes. Passion Portrait“

„Wenn Sie älter als 70 Jahre sind und eine Liebesbeziehung haben und ich mit Ihnen auf diese blicken darf, würde ich mich freuen, von Ihnen zu hören." Stellen Sie sich nun vor, Sie hätten im Frühjahr 2020, in der Hochphase der Pandemie, diesen Aufruf im Südkurier persönlich gelesen. Wie hätten Sie auf dieses Portraitangebot reagiert? Einige wenige von Ihnen sind ja in der angesprochenen Altersklasse! Hätten Sie sich gemeldet?
Guten Abend meine sehr verehrten Damen und Herren, Ihre Beteiligung ist schwerlich zu erraten, denn Sie hätten sich gar nicht melden können, da die Nachricht nicht im Südkurier veröffentlicht wurde, sondern in einer Lokalzeitung in Ludwigsburg am Rhein und ich vermute, dieses Blatt hat kaum jemand von Ihnen abonniert.
Heute ist die Künstlerin, die diese Anzeige geschaltet hat, bei uns zu Gast. Sie hat die wundervollen Arbeiten, die daraus entstanden, mitgebracht. Herzlich willkommen Loredana Nemes in Konstanz.
Immergrün
In Ludwigsburg stieß die Zeitungsannonce offensichtlich auf Interesse, wie im Kabinettsaal nebenan, in der Serie Immergrün in Augenschein genommen werden kann. 14 Paare, die seit Jahrzehnten vereint beisammen leben, meldeten sich, obwohl sie aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters besonders durch Ansteckung gefährdet waren und zum Schutz abgeschottet, teilweise gar weggesperrt wurden. Es gehörte 2020 somit viel Mut dazu, zum einen einer fremden Fotografin Modell zu stehen und zum anderen zu einer Serie, die die Kraft und Beständigkeit einer langen Liebe in den Mittelpunkt der Betrachtung stellte. Doch Nemes konnte die Paare für sich einnehmen und Vertrauen ist unabdingbar für gute Portraitarbeit. Nemes hatte ein Stipendium von der Stadt Ludwigsburg erhalten und wohnte vor Ort. Sie suchte die Paare einzeln auf und setzte sich in langen Gesprächen mit ihrer Beziehung und ihrer Zweisamkeit, mit ihren Vorlieben und ihrer Gestik auseinander. Erst dann kam die Kamera dazu.  
Nemes fotografierte die Partner kurz nacheinander mit dem schwer kontrollierbaren Verfahren der Doppelbelichtung. Sensibel tastete sie sich an die Paare heran, trennte sie in der ersten Belichtung und verwebte sie wieder in der zweiten. Zusammen mit einer ausgeklügelten Lichtregie fertigte sie außergewöhnlich anziehende Bilder, in denen Teile des Körpers sich scheinbar durchdringen und verschmelzen. Das Durchscheinende, teils Schwebende verleiht den Paaren etwas Jenseitiges, etwas Surreales - für Nemes Zeichen des Zaubers und der Magie des fotografischen Mediums. Über Kopf-, oder Halbportrait hinaus fokussierte sie die Anmut der sommerlich unbekleideten Arme und Beine und veranschaulicht uns die Zartheit der papierenen Haut auf überlebensgroßen Bildern. Die Begegnungen mit den teils steinalten Menschen waren äußerst berührend und ihre Erzählungen von Krieg, Flucht, Liebe, Glück, Kinderkriegen, Sehnsucht und Sterblichkeit inspirierten Nemes zu poetischen Versen, mit denen sie ihre Portraitdarstellungen ergänzt. Und noch ein Drittes, nämlich faszinierende Pflanzenbilder, runden die Reihe ab. In der gleichen Abstraktion des Schwarzweiß und mit der gleichen, ungemein reichen Palette an Grautönen, widmete sich Nemes immergrünen Gehölzen und Sträuchern. Sie sind ein Pendant zum Alter und gaben der Serie den Namen.

Sehr verehrte Damen und Herren
Sind derartige Projekte schon zu normalen Zeiten schwierig zu realisieren, so sind sie es in Pandemiezeiten besonders. Aber neben dem Willen, Schwierigkeiten zu überwinden, war auch Loredana Nemes‘ Mut gefragt. Ein Blick in ihre Biografie zeigt, dass es ihr an Mut und Entschlossenheit nicht mangelt.
Nach ihrem Studium der Germanistik und Mathematik in Aachen, entschied sie, im Jahr 2001 nach Berlin umzusiedeln. Das war kein bloßer Ortswechsel, es war eine Zäsur. Mit dem Umzug verabschiedete sie sich von ihrem bisherigen Leben und betrat die unbekannte Welt der Kunst. Ab heute bin ich Künstlerin, kommentiert sie lakonisch ihren damaligen Schritt. Zwar hatte sie mit der Fotografie schon länger geliebäugelt, aber der Entschluss fiel quasi über Nacht. In der Hauptstadt fand die Autodidaktin mithilfe von Ausstellungen, Bücherstudien und der Fotografin Frauke Eigen binnen weniger Jahre zu einer eigenen Bildsprache und zu öffentlichem Ansehen. Zu ihren Vorbildern gehört der berühmte Franzose Henry Cartier-Bresson. Seine Bilder des „moment décisif", des entscheidenden Moments, regten sie zu Aufnahmen über Alltagsereignisse an. So entstanden schon im Jahr 2002 die ersten Bilder der Langzeit-Folge beautiful, in der sie sich tief verbunden und hoch sensibel den Menschen und dem Leben in ihrer Geburtsstadt Sibiu in Rumänien widmete. Die eindrückliche Serie wurde im letzten Jahr anlässlich der Karlspreisverleihung an den rumänischen Staatspräsidenten Klaus Johannis auch im Museum Ludwig in Aachen gezeigt. Auch der Zyklus Under Ground aus den Jahren 2005/2006 mit Bildern von in sich gekehrten, enervierten oder ermüdeten Passagieren aus öffentlichen Verkehrsmitteln ist noch journalistisch-dokumentarisch motiviert. Danach begann sie konzeptuell zu arbeiten.
Über Liebe
Aus dem seither entstandenen vielteiligen Portraitoeuvre sind im Kunstverein vier wichtige Werkphasen zu sehen. Zu der bereits vorgestellten Serie Immergrün gibt es zweites Werk das veranschaulicht, dass Nemes sich mit dem Mysterium der Liebe schon 15 Jahre früher eingehend auseinandersetzte. Warum Liebe kommt, geht oder bleibt sind Fragen, die sie verstehen und begreifen möchte. Konkret begab sich Nemes für Über Liebe, so heißt die Arbeit, in große Städte wie New York, Madrid, Oslo, Leipzig und Sibiu, den Ort ihrer Kindheit. Dort schlug sie ihr mobiles Studio auf, ein schwerer, neutraler Stoff, den sie an einer Häuserwand montierte. Davor inszenierte sie sich mit einem langen weißen Kleid unverkennbar als Braut und lud wildfremde Passanten ein, den freien Part neben ihr als möglichen Bräutigam einzunehmen. Nur wenige Männer lehnten das Angebot der attraktiven Braut ab, aber sie näherten sich ihr sehr unterschiedlich. Manche reichen ihr die Hand, andere knieen nieder, wieder andere umarmen sie heftig, heben sie hoch in die Luft oder tanzen mit ihr. Insgesamt 35-mal spielte Nemes die suchende Braut. Sie hatte schlotternde Knie, als sie den jeweils angenommenen Partner nach der Liebe zu einer Frau befragte. Bilder dieses Zyklus finden Sie im Flur meine Damen und Herren. Nemes agierte auf den emotional aufreibenden Aufnahmen als Fotografin, Regisseurin und Modell zugleich. Ihre Performance basiert auf einem realen Hintergrund, denn das Kleid ist das Relikt einer gescheiterten Hochzeit. Die Begegnungen hielt die Künstlerin mit der Kamera fest und die teils sehr intimen Antworten der Männer zeichnete sie auf. Nemes sieht sich nicht selbst in diesen Bildern, zwar ist sie zweifelsfrei die abgebildete Braut, aber die Erzählungen und Gesten gelten nicht ihr, sondern der nicht sichtbaren Liebe ihrer hypothetischen Bräutigame.
Die Bilder entstanden in Nemes immer gleich ausgestattetem mobilen Studio und erwecken den Eindruck von Atelieraufnahmen. Ausgestellt sind deshalb einige Making-ofs, die das Aufnahmeprozedere an einigen Orten dokumentieren.
Beyond
Nemes‘ Arbeiten sind eng verwoben mit ihrer Biografie. Sie stammt, wie ich schon erwähnte, aus Sibiu in Rumänien. Als sie 14 Jahre alt war, mussten ihre Eltern das Land aus politischen Gründen verlassen und flohen nach Aachen. Davor hatte die Familie eine Zeitlang im Iran gelebt. Die Gründe für ihre Werkreihe beyond reichen u.a. bis auf Erlebnisse ihrer Kindheit im Iran zurück, als sie erstmals mit der Trennung der Geschlechter und speziellen Einschränkungen für Frauen konfrontiert wurde.   
Beyond ist eine Langzeitstudie und mit ihr erlebte Nemes 2010 ihren Durchbruch. Die Reihe handelt von Kaffeestuben und Vereinslokalen in den Berliner Stadtvierteln Neukölln und Kreuzberg und Wedding. Es sind Rückzugsorte für Männer arabischer und türkischer Kulturkreise, Einrichtungen, die auch hierzulande einst üblich waren. Man trinkt dort Tee, schaut Fernsehen, debattiert – so die Vermutung. Doch was dort wirklich vor sich geht, bleibt Außenstehenden verborgen. Die milchigen und gemusterten Scheiben oder mit Gardinen verhangenen Fenster, geben das Dahinter nur verschwommen und nebulös wider. Das spiegelt unsere Kenntnis über diese Menschen, die möglichweise nebenan wohnen, aber Fremde bleiben.
„Über Jahre ging ich an den in meiner Nachbarschaft liegenden Orten vorbei, bis etwas in mir aufblitzte und ich wusste, darüber will ich mehr erfahren“, beschreibt Nemes den Beginn ihrer fotografischen Untersuchung. Nemes, die durch ihre Flucht Entwurzelung und Fremdheit schmerzhaft durchlebte, näherte sich ihrem Sujet mit Bedacht. Zunächst fokussierte sie die Räumlichkeiten. Die Aufnahmen machte sie jeweils nachts; ihre Großbildkamera richtete sie dabei frontal auf die Gebäude. Diese aufwändige Technik ist heute ungewöhnlich, doch Nemes bevorzugt große und mittlere Formate, da sie ihr präzises Gestalten und sorgfältiges Beobachten wie auch ein tieferes Einlassen auf die Protagonisten ermöglichen. Auch der langsamere Analogfilm gehört dazu. Im zweiten Schritt, wieder bei Nacht, bat sie einzelne Gäste, sich für ein Portrait dicht hinter einem Caféhausfenster zu positionieren, quasi mit der Nasenspitze direkt am Glas. Dabei legte sie den Fokus nicht auf die Männer, sondern auf die Scheibe, die wie eine weitere Membran zwischen der Fotografin, ihrer Kamera und den Protagonisten wirkt. Auf den schemenhaften Gesichtern schlagen sich die Muster und Dekorationen der Scheiben als karierte, gestreifte, feinmaschige Strukturen nieder – Sinnbilder einer unüberwindbaren Fremdheit? Nemes spricht von „verschleierten Männern“.
Die geheimnisvollen Portraits sind eine subtile Annäherung an die Beziehung zweier Kulturkreise. Der einzelne Portraitierte ist im Grunde austauschbar, nur Teil oder Repräsentant seiner Gruppe. Die abgebildeten Männer finden sich nicht in den Fotografien. Als Nemes sie ihnen vorlegt, äußern sie erstaunt, das bin doch nicht ich. Das verwundert nicht.
Exkurs
Deutlich wird in dieser rätselhaften Werkreihe, dass die Portraitfotografie Grenzen hat. Und damit, meine Damen und Herren, stößt man unweigerlich auf die Frage, was ein Portrait über einen Menschen aussagen kann, ob ein Portrait nur Oberfläche ist, oder ob der Wesenskern einer Person, was auch immer das ist, im Abbild durchscheint. Die Frage ist so alt, wie das Genre und man findet damals wie heute Vertreter für die eine wie die andere Seite. So hat es die Fotografin Gisele Freund, die aus Nazideutschland fliehen musste und in Paris zur Portraitadresse renommierter Schriftsteller avancierte, nie aufgegeben erfahren zu wollen, was sich hinter einem Gesicht verbirgt, während der bekannte Becherschüler Thomas Ruff in den 1980er-Jahren mit seinen überlebensgroßen Kopfportraits bedeutete, dass sie nur Äußerlichkeiten zeigen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen mich ein ganz praktisches Beispiel auswählen, das Bewerbungsfoto, das in Deutschland noch obligatorisch ist. Personal- und Fachabteilungsleiter möchten es sehen und für viele Menschen ist dies, neben dem Hochzeitsfoto eine der wenigen Gelegenheiten, einen Berufsfotografen zu beauftragen.
Doch was kann das Foto aussagen? Sicherlich, Ausbildung und berufliche Stationen sind die harten Entscheidungskriterien. Aber das Foto ist neben dem Anschreiben, eine wichtige Quelle für die Personalentscheider, um sich ein Bild des Bewerbers zu machen – ich wiederhole sich ein Bild machen.
Man schaut auf das Foto und glaubt, Anzeichen für Zuverlässigkeit, Dynamik oder Sorgfalt zu finden. Ein geschulter Personalleiter schätzt ein, wie viel des vorliegenden Fotos gezielte Gestaltung ist und wird die tatsächliche Person dahinter zu erkennen anstreben. Doch ist das nicht alles Illusion? Halluzination? Spielt das Gehirn da nicht Spielchen mit uns? Wir sehen Haare, Nase, Augen und Mund und jedes Detail evoziert in uns Erinnerungen an ganz unterschiedliche Personen, die wir kennen. Und unser Gehirn konstruiert aus alledem eine synthetische Persönlichkeit, die wir auf dem Bild zu erkennen scheinen.
Die andere Möglichkeit, dass es objektive Zusammenhänge zwischen Gesichtsmerkmalen und der Persönlichkeit gibt, also der stechende Blick der für Aggressivität steht oder die für die Hakennase für Geiz, wollen wir ganz schnell vergessen. Die führen in unschöne Gewässer.
Wie auch immer es passiert: Wenn wir lange genug auf ein Portrait schauen, erscheint eine ganz konkrete Person vor uns. Die Präzision des Charakters, der uns erscheint, ist erstaunlich und im Grunde unerklärlich. Geheimnisvoll, genauso wie der tiefe Blick in die Augen eines Gegenüber, von dem man ja auch sagt, dass sich dabei die Seelen berühren.
Blütezeit
Doch kommen wir zurück zur Arbeit von Loredana Nemes. Auch der letzte hier präsentierte Zyklus mit dem klingenden Namen Blütezeit gründet auf persönlichen Erfahrungen. Angeregt von den raschen Entwicklungsschritten ihrer einjährigen Tochter, nahm sie 2012 Jugendliche ins Visier. Sie interessiert sich für diesen Lebensabschnitt, da er für Aufbruch und tiefgreifende Veränderung steht. Es war Frühling und in den öffentlichen Gärten und Parkanlagen der schwäbischen Stadt begegneten ihr Freundescliquen, Geschwister und Erstverliebte, die sie um ein Gruppenportrait anhielt.
Schnell stellte sie fest, dass sie mit einem herkömmlichen Bildnis, das mehrere Personen in einer Aufnahme vereint, die Beziehungen, das Flüchtige, den Liebreiz, den sie bei den Heranwachsenden beobachtete, nicht verdeutlichen könne. Stattdessen fand sie ein überraschendes Format, das mehr über diese Altersgruppe preisgibt. Sie gruppierte die Jugendlichen nebeneinander, konzentrierte ihren Blick auf jeweils einen Halbwüchsigen und lichtete alle der Reihe nach aus der gleichen Distanz ab. Die einzelnen Portraits fügte sie nachträglich als Diptychen oder mehrteilige Tableaus wieder zu einem Bild zusammen. So steht jeder Junge und jedes Mädchen souverän im Zentrum des Bildes und ist zugleich verbunden mit seiner Gruppe. Dabei überlappen sich die Portraitierten teilweise, ihre Gesichter sind angeschnitten, mal sind sie frontal, mal im Profil dargestellt – all das zusammen ergibt eine betörende Ästhetik, die collagenhaft und filmisch wirkt. Die Trennungen, Brüche und Wiederholungen in den aneinandergereihten Aufnahmen betonen die Freundschaft und den Zusammenhalt, sie bezeugen aber auch die Fragilität und Verletzbarkeit in der schwierigen adoleszenten Lebensphase. Wie zum Schutz vor Eingriffen aus der Erwachsenenwelt sind die Jugendlichen von aufblühenden Bäumen umrahmt, die sinnbildlich das Kraftvolle und Unverstellte des Jungseins unterstreichen.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss
Nemes ist bei ihren Studien stets auf der Suche nach ungewohnten und über das bisherige fotografische Terrain hinausreichenden Gestaltungsweisen. Sie belässt es aber nicht dabei, einzelne Personen und deren Beziehung im Bild einfangen zu wollen. Sie überformt die Portraits durch eine eigene, dem Thema adäquate Formensprache und setzt auf diese Weise einen ganzen Beziehungstypus ins Bild. Und diesen Beziehungstyp greift sie in assoziierten Naturbildern auf, wie auch in ihren zugehörigen Texten. Wir sehen hier also nicht nur rund 50 Fotografien, sondern wir sehen auch vier multimediale Kompositionen, also gewissermaßen vier Metabilder.
Es ist diese offene Erzählung von Liebe und Fremdheit, die Nemes Bildwelt auszeichnen. Sie spiegeln ihr Interesse, dem Rätsel Mensch und sich selbst näher zu kommen. Begegnungen mit anderen Menschen und Kulturen bereiten ihr Freude. Meine Damen und Herren: Lassen Sie sich von dieser Freude anregen.

Dorothea Cremer-Schacht



Gespräch zur Kunst   
Sonntag, 20.2.2022, 11.30 Uhr
Loredana Nemes mit Dr. Christina Leber, Leiterin Kunststiftung DZ BANK

Vortrag                 
Sonntag, 10.4.2022, 11.30 Uhr
Geistesgegenwart im Portrait, Prof. Dr. Helmut Bachmaier, Universität Konstanz

Das Portrait ist das zweitälteste Genre der Fotografie. Das Wesen eines Menschen zu erfassen, fordert Fotografen seit der Erfindung des Mediums heraus. Doch wieviel ein Bild über einen Menschen aussagen kann, was zwischen Oberfläche und Wesenskern sichtbar wird, ist eine viel diskutierte Frage. Auch Loredana Nemes ist auf der Suche nach dem möglichen Erkenntnisgewinn eines Bildnisses. Im Kunstverein Konstanz präsentiert sie vier unterschiedliche Werkgruppen. In konzeptueller Herangehensweise hinterfragt sie die Möglichkeiten eines Portraits und schafft eigenwillige, komplexe, im Gedächtnis verhaftende Kompositionen.

„Über Liebe“ ist eine frühe Serie der Künstlerin, die zwischen 2006 und 2008 entstand. In einem imposanten Fries aus kleinformatigen Bildern hat Nemes sich als Braut auf den Straßen verschiedener europäischer und amerikanischer Großstädte inszeniert. Neben ihr steht jeweils ein wildfremder Mann als möglicher Bräutigam, der sie berührt oder umarmt und den sie nach der Liebe zu (s)einer Frau befragt, um das ewige Mysterium, warum Liebe kommt, bleibt oder vergeht, tiefer zu ergründen. Die Begegnungen hat Nemes mit Selbstauslöser fotografiert und die teils sehr intimen Antworten der Männer aufgezeichnet und transkribiert.

Die Serie „beyond“ zeigt Rückzugsorte für Männer aus arabischen und türkischen Kulturkreisen. Was in den Lokalen hinter milchigen Fensterscheiben vor sich geht, bleibt Außenstehenden verborgen und spiegelt unsere Kenntnis über diese Menschen, die möglichweise sogar nebenan wohnen. Nemes, die als Mädchen durch ihre Flucht nach Deutschland Fremdheit durchlebte, nähert sich ihrem Sujet mit Bedacht. Zunächst fotografiert sie die Räumlichkeiten von außen. Im zweiten Schritt bittet sie Gäste, sich für ein Portrait dicht hinter einem Caféhausfenster zu positionieren. Dabei legt sie den Fokus nicht auf die Männer, sondern auf die Scheibe und schafft äußerst konkrete wie höchst vage Portraits, die zudem die Grenzen des Genres aufzeigen.

2012 widmet sich Nemes mit „Blütezeit“ der für Aufbruch stehenden Jugend. Freundescliquen, Geschwister und Erstverliebte, die ihr in öffentlichen Gärten und Parks begegnen, bittet sie um ein Gruppenportrait und greift dafür zu einem überraschenden Format. Statt einer herkömmlichen Gruppenaufnahme lichtet sie alle Jugendlichen einzeln ab und fügt die Portraits nachträglich als Diptychen oder mehrteilige Tableaus zu einem betörend schönen Bild zusammen. So steht jeder Junge und jedes Mädchen souverän im Zentrum des Bildes und ist zugleich verbunden mit der Gruppe. Die Trennungen und Wiederholungen in den aneinander gereihten Aufnahmen betonen Freundschaft und Zusammenhalt, aber auch Fragilität und Verletzbarkeit der adoleszenten Lebensphase. Umrahmt sind die Heranwachsenden von Bildern aufblühender Bäume, die sinnbildlich das Kraftvolle und Unverstellte des Jungseins unterstreichen.

In der jüngsten Portraitarbeit „Immergrün“ erkundet Nemes die Beständigkeit der Liebe zwischen Männern und Frauen, die seit Jahrzehnten als Paar zusammenleben und schließt den Kreis zur Serie „Über Liebe“. Um die Zweisamkeit zu verbildlichen wählt Nemes das Verfahren der Doppelbelichtung, indem sie die Partner kurz nacheinander fotografiert. Nemes‘ sensibles Herantasten trennt das Paar in der ersten Belichtung und verwebt es wieder in der zweiten. Zusammen mit der ausgeklügelten Lichtregie entstehen außergewöhnlich anziehende Bilder, in denen Teile des Körpers sich scheinbar durchdringen und verschmelzen. Ihr einfühlsamer Blick gilt auch der Anmut der Hände, Beine und Zartheit der papierenen Haut der Älteren. Die Begegnungen mit den teils steinalten Menschen sind berührend und ihre Erzählungen inspirieren Nemes zu poetischen Versen, die neben Aufnahmen von immergrünen Pflanzen – ein Pendant zum Alter – die Portraits bereichern.

Nemes‘ Fotografien sind Erzählungen von Liebe und Fremdheit und spiegeln ihr Interesse, dem Rätsel Mensch und sich selbst näher zu kommen. Seit Beginn ihres fotografischen Schaffens experimentiert sie mit ungebräuchlichen Ausdrucksweisen und forscht nach neuem fotografischem Terrain. Ihre Technik hingegen ist traditionell und aufwändig. Sie arbeitet viel mit Analogfilm und großer Kamera, doch dies ermöglicht ihr präzises Gestalten, sorgfältiges Beobachten und genügend Zeit, sich auf die Protagonisten einzulassen, um Gefühle und Empfindungen einzufangen, die dem gewöhnlichen Blick verborgen bleiben.

Nemes ist 1972 in Sibiu in Rumänien geboren. Mit den Eltern floh sie 1986 nach Aachen. Dort studierte sie Deutsche Literatur und Mathematik, bevor sie sich autodidaktisch der Fotografie zuwandte. Seit 2001 lebt sie als Künstlerin in Berlin. Neben der Portraitarbeit ist die Welt der Bäume, ihr Aufblühen, Wachsen und Vergehen, ein weiteres wichtiges Sujet.  

 

Öffentliche Führungen
So 06.03. 11.30 Uhr / So 20.03. 11.30 Uhr / Do 31.03. 16.30 Uhr / Do 14.04. 16.30 Uhr
weitere auf Anfrage

 

Öffnungszeiten                                          
Di – Fr  10.00 – 18.00 Uhr
Sa / So / Feiertage  10.00 – 17.00 Uhr

Bitte informieren Sie sich jeweils vor dem Besuch der Ausstellung über allfällige Terminänderungen und Einlassbestimmungen aufgrund von Corona-Maßnahmen unter www.kunstverein-konstanz.de oder (+49) 07531-223 41

 

Fotos Loredana Nemes: Astrid und Wolfgang, Serie: Immergrün, 2020 / Café Esto Neukölln, Serie: beyond, 2008 / Marvin, 46 New York, USA, Serie: Über Liebe, 2006-2009 / Max und Corrine, 2012, Serie: Blütezeit, 2012

 

 

Artist Film Loredana Nemes Berlinische Galerie

Fotos: Franz Reichrath und Christa Schweizer

 

Mit freundlicher Unterstützung von
Radio Krieg Konstanz

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